Karsten Hein zeigt zum ersten Mal Fotos aus seinem ukrainischen Notizbuch und berichtet dazu von seinen Erlebnissen und Eindrücken.
Er arbeitet seit 2003 als Dokumentarfilmer und Fotograf in der Ukraine, seit März 2022 in diesem Krieg, seit Mai 2023 entlang der Kontaktlinie.

Karsten Hein:

Dieses ist ein Gruppenfoto von ca 60 Soldaten, die sich in zwei Reihen aufgereiht haben. Die vordere Reihe kniet, die hintere steht. In der Mitte halten sie eine große ausgebreitete Deutschlandfahne. Einige von ihnen tragen Schutzwesten, einige haben einen Helm oder ein Maschinengewehr in der Hand. Die meisten von ihnen sind im T-Shirt. Sie blinzeln in die untergehende Sonne. Ihre Uniformen haben ähnliche Farben und Muster wie das vertrocknete, plattgetretene Gras vor ihnen und das Schilf und der Wald hinter ihnen. Das warme Sonnenlicht verstärkt den Eindruck, dass sie in ihrer Tarnkleidung mit der Umgebung verschmelzen. Wenn man sich damit auskennt, sieht man an ihren Abzeichen, dass es ukrainische Soldaten sind. Das Foto ist im September 2023 entstanden, am Ende eines sehr anstrengenden Trainings für die Freiwilligen im 505. Bataillon der 36. separaten Marines Brigade, Spezialkräfte. Ich finde, dass man den Männern die Anstrengung ansieht, aber wenn man sich die Gesichter anschaut, eins nach dem anderen, insgesamt auch eine gewisse Zufriedenheit. Das Bild hat eine friedliche Atmosphäre, eine Erinnerung an einen der letzten schönen Tage des Sommers.

Ich kann mich nicht erinnern, je ein Gruppenfoto mit so vielen Menschen gesehen zu haben, das mich als Fotografie überzeugt hat, und dieses ist keine Ausnahme. Es kann keinem der Abgebildeten gerecht werden. Ich kann mich bei der Aufnahme ja nicht auf alle gleichzeitig konzentrieren und auch dem Betrachter fällt es jetzt sicher schwer, jedem einzelnen Aufmerksamkeit zu schenken. Ein Grund, dennoch Gruppenfotos zu machen, ist dass manche vielleicht einen dokumentarischen Wert haben oder später einen bekommen könnten. Und darüber entscheidet oft erst die Geschichte. Aber unbedingt sollte man sie machen, wenn man wie ich dokumentarisch mit Menschen arbeitet. Nicht für mich, nicht für das Publikum, sondern für meine Protagonisten, denn viele freuen sich über ein Gruppenfoto als Souvenir.

Um dieses hier hatten mich die Soldaten gebeten, um ein Bild „mit allen“ zu haben, und einer hatte die Deutsche Fahne mitgebracht für ihren deutschen Fotografen, damit ich damit Deutschland von ihnen grüße und mich für die Unterstützung aus Deutschland bedanke. Ich fragte nach, ob sie nicht der Meinung seien, dass Deutschland und der Westen insgesamt etwas mehr tun könnten für die Ukraine. Und sie erwiderten, militärisch bestimmt, aber was Deutschland auf humanitärem Gebiete leiste, sei großartig. Fast alle von ihnen hatten gewartet, bis ihre Familien in Sicherheit außer Landes waren, einige in Polen, noch mehr aber in Deutschland, bevor sie an die Front fuhren. So konnten sie beruhigt sein, dass ihre Familien in einem friedlichen, wohlhabenden Land lebten, falls ihnen etwas zustoßen sollte.

Die Männer wussten, wofür sie sich meldeten. Die Soldaten in diesem Batallion sind die die ersten, die in die feindlichen Gräben gehen. Wer sich hier freiwillig meldet, ist bereit zu sterben.

Ich hatte im Sommer 2023 eine ziemliche Strecke mit ihnen zurückgelegt. Von der Lymanfront bis in den Süden. Anfang Oktober fuhr ich dann zurück nach Berlin. Wir verabredeten uns wieder für Anfang Dezember. So sollte ich zum ersten Mal nach Cherson kommen. Als ich dort ankam, um neun Uhr morgens am Freitag, dem 8. Dezember 2023, war niemand am Bahnhof, um mich abzuholen. Es war ein sehr dunkler Tag. Es regnete. Die Straßen waren menschenleer. Und es war sehr laut, ununterbrochen gab es Explosionen. Ich schrieb dem Kommandanten, dass ich da sei, und zwei Stunden später antwortete er, dass sie in der Nacht zuvor auf das linke Ufer des Dnjepr befehligt worden wären. Er würde sich später bei mir melden. Er meldete sich nicht.

Der Teil Chersons, der auf dem rechten Ufer des Dnjepr liegt, mit der Innenstadt und dem Hafen, wird seit November 2022, seit seiner Wiederbefreiung von der russischen Besetzung, täglich von den Russen bombardiert. Und anders als in anderen ukrainischen Städten gibt es täglich Treffer und mehrmals in der Woche Tote und Verletzte. Aber dieser Freitag wurde ein Tag, der selbst für Chersoner Verhältnisse extrem laut war. Ich konnte das damals noch nicht einordnen. Ich war noch nie dort gewesen, ich kannte dort niemanden, ich dachte bei den unablässigen Detonationen nur, mein Gott, wo bin ich hier hineingeraten.

Die meisten Explosionen gab es an diesem Tag aber auf dem linken Ufer, auf dem die russische Armee sitzt und von dem ihr ukrainische Marines inzwischen eine schmalen Streifen um die kleine Ortschaft Krynky wieder abgerungen haben und wo es nun erbitterte Kämpfe zwischen ukrainischen Spezialkräften und russischen Luftlandetruppen gibt. Dieses Ufer besteht aus Flutwiesen, mit nur wenigen einzelnen Gebäuden, einzelnen Bäumen und Büschen, aber um diese Jahreszeit vor allem aus Schlamm. Nichts hinter dem man in Deckung gehen könnte. Die besonders lauten Explosionen rührten von Fliegerbomben her, die russische Bomber auf den linken Uferstreifen warfen, mitten ins Gefecht hinein, auf ukrainische und russische Soldaten zugleich. Der ohrenbetäubende, fast Übelkeit erregende Lärm, der mich umhüllte, während ich, nur durch den Fluß von ihnen getrennt, durch die verlassenen Straßen der fremden Stadt irrte, bedeutete für 350 Männer des 505. Bataillons den Tod. Ich vermag nicht, mir vorzustellen, was sich dort für Szenen abgespielt haben. Fast alle Männer auf dem Foto sind an diesem Tag gestorben. Sie hatten vom Zeitpunkt der Aufnahme an noch 10 Wochen zu leben. Alle bis auf zwei.

Einer ist noch am Leben, weil er damals nicht in Cherson war, einer, der Kommandant, der auf dem Bild vorne vor der Fahne kniet, weil er schwer verletzt gerettet wurde. Als ich ihn Ende Januar 2024 wiedertraf, konnte er gerade wieder gehen und seit zwei Wochen erst (stotternd) wieder sprechen. Seine Rettung über den Dnjepr, der dort mehrere hundert Meter breit ist und von den Russen überblickt werden kann, war wie jede Überfahrt ein lebensgefährliches Unterfangen. Dass man für ihn dieses Risiko auf sich nahm, spricht für seine Bedeutung für die Armee. Ein gut ausgebildeter, kampferprobter Kommandant ist viel wert. Wir wissen nicht, wieviele der Freiwilligen dort ebenfalls nicht sofort tot waren, aber nicht gerettet werden konnten.

Nun ist es also so, dass uns die Toten grüßen.

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